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#Auslandsaufenthalt #Kultur

Theater in Zeiten der Krise

Nora Kühnhold, stART.up-Stipendiat:in, Theaterregisseur:in

Von Mitte April bis Mitte Juni 2024 habe ich mich im Rahmen meines Projekts „Intercambio teatral“ im zweiten stART.up-Förderjahr in Tucumán und Buenos Aires mit Schauspieler:innen, Regisseur:innen und Theaterdozent:innen ausgetauscht. Seit 2006/7 habe ich insgesamt drei Jahre in Tucumán gelebt – ich war dort in der Schule, habe Theater an der Universität und in den Kursen von Raúl Reyes gelernt. Die improvisationszentrierte Arbeitsweise von Reyes und Theater als ein sozialer Ort des gemeinsamen Kreativ-Werdens hat meine Art, Theater zu denken und zu gestalten, stark geprägt. Mit dem Stipendium der Claussen-Simon-Stiftung konnte ich nach langer Zeit wieder nach Tucumán zurückkehren und meine Erinnerungen kritisch überprüfen. Im nächsten Jahr werden Reyes und ich zusammen ein Seminar in Hamburg veranstalten und damit den Austausch weiterführen.

Für meinen Aufenthalt haben mich besonders drei Forschungsfragen interessiert:

1. Arbeitet Raúl Reyes noch mit denselben Theater-Konzepten wie früher? 
2. Wie produzieren Theatermacher:innen in Buenos Aires und Tucumán unter dem neuen Präsidenten Javier Milei, der Theater als Ideologieproduktion verfemt? 
3. Wie sieht es mit den feministischen Perspektiven auf Theater nach der großen feministischen Bewegung im letzten Jahrzehnt aus?
San Miguel de Tucumán ist eine mittlere Großstadt im argentinischen Nordwesten. Sie hat eine bewegte Geschichte, von Zeiten großen Reichtums durch Zuckerrohr über eine Ära aktiver Arbeiterbewegung, die in der letzten Militärdiktatur zerschlagen wurde, bis hin zu Wellen der Migration nach Buenos Aires, ausgelöst von zunehmender Armut in den jüngsten Krisen und bis heute anhaltend. Wie viele Länder, die durch den Kolonialismus geprägt sind, ist Argentinien ein stark zentralisiertes Land. Ein Großteil der Bevölkerung lebt im Ballungsraum Buenos Aires. Auch in der Kulturproduktion gibt es einen Gap zwischen der Hauptstadt und den Inlandsprovinzen. Als eine wichtige Universitätsstadt des argentinischen Nordens ist Tucumán jedoch ein kulturelles Zentrum in der Peripherie. Es gibt viele kleine Theater: Das argentinienspezifische „teatro independiente“, das sich nach der Diktatur in den 1980ern entwickelte, prägt auch Tucumán. Darunter versteht man ein Theater, das oft aus einem linken Impetus entstanden ist, meistens in Gruppen produziert wird, die sich als Kooperativen oder Kollektive verstehen, und ihre Stücke in unterschiedlichen kleinen Locations aufführen, wie Hinterhöfen, Wohnhäusern, aber auch kleine Theatersälen. Zudem existieren ein städtisches Theater und der Theaterstudiengang an der Universidad Nacional de Tucumán. Allerdings gibt es kaum staatliche Subventionen für Theater; und unter dem neuen Präsidenten Javier Milei sind diese geringen Zahlungen auch noch gefährdet. 

1.
Raúl Reyes ist seit circa 40 Jahren ein Akteur in der Tucumaner freien Szene, seit 30 Jahren hat er eine Theaterschule, das „Taller Actoral“. Ich habe dort 2007 Theaterspielen gelernt, und 2011/2012 assistiert und gespielt. 2019 war Reyes bereits in Hamburg und hat mit mir zusammen ein Seminar gegeben. Aspekte seiner Arbeit, die mich sehr geprägt haben, sind eine auf Improvisation basierende Form der Stückentwicklung sowie kollektives Feedbackgeben und Brainstormen über Theater, Literatur und Kunst. In den vergangenen Wochen konnte ich seine Kurse begleiten und das Aufwärmtraining anleiten. Spannend war für mich festzustellen, dass er stärker an Schauspieltraditionen festhält, als ich es in Erinnerungen hatte, und ich selbst seine improvisationszentrierte Arbeitsweise in meinen Arbeiten oft in eine stärker performative Richtung weiterentwickle. Bei meinem Aufenthalt 2011/12 war es Gang und Gebe, dass die ganze Gruppe Feedback gab. In diesen Gesprächen die eigene Wahrnehmung zu schulen, aber auch zu hinterfragen, habe ich als sehr bestärkend wahrgenommen und auf meine Theaterprozesse übertragen. Nach zwölf Jahren gibt Reyes hauptsächlich selbst Feedback; er findet mittlerweile, unsere früheren Prozesse hätten uns als Spieler:innen zu sehr verkopft. Diese Problematik für das Spiel kenne ich aus meinen eigenen Prozessen, habe aber noch immer den Idealismus, am kollektiven Besprechen festzuhalten. Auch wenn das Feedback an sich nicht mehr so eine große Rolle spielt wie früher, fasziniert mich das wöchentliche Zusammenkommen, um Theater zu machen, und ich merke nach dieser Erfahrung einmal mehr, wie groß mein Wunsch ist, auch im deutschen Kontext in längeren stabilen Gruppenzusammenhängen zu forschen, zu spielen und zu experimentieren, so wie es auch bei Reyes üblich ist und ich es in Argentinien kennenglernt habe. 

2.
Im Dezember 2023 hat der neue argentinische Präsident Javier Milei sein Amt angetreten. Schon im Januar legte er ein Konglomerat an Gesetzesänderungen vor, dass u.a. enthielt, das INT (Instituto Nacional de Teatro) zu schließen. Das INT fördert Produktionen und die Instandsetzung von Theatersälen und ist eine wichtige Plattform für die Sichtbarkeit des freien Theaters: Es organisiert Festivals und vergibt Preise. Milei versteht Kulturakteur:innen als ideologisch links und will Staatsausgaben auf ein Minimum reduzieren. Diese Mischung gefährdet die staatlichen Kulturförderungen, die ohnehin deutlich geringer sind als in Deutschland. Die meisten Theaterstücke in Tucumán entstehen ohne eine nennenswerte Förderung, die den Theatermacher:innen erlauben könnte, vom Theater zu leben. Sie werden von Gruppen entwickelt, die sich entweder aus der Universität oder aus einer der zahlreichen Schauspielkurse kennen. Die Produktionszeiten erstreckten sich oft über mehrere Jahre und die Proben werden bis heute nicht bezahlt. In den letzten Jahren werden die Produktionszeiten immer ähnlicher zu denen in Deutschland (also zwei bis drei Monate), wie meine ehemalige Tucumaner Professorin für Theatergeschichte, die Theatermacherin Marina Rosenzvaig anmerkt. Ihre Vermutung ist, dass die jungen Theatermacher:innen unter mehr Produktivitätsdruck stehen. Gegen die Schließung des INT gab es im Januar 2024 zum Glück erfolgreiche Proteste und trotzdem weiß niemand so genau, wie es in den nächsten Jahren mit den Förderungen weitergeht.

Für eine ältere Generation von Theatermacher:innen, wie Raúl Reyes, war die Möglichkeit, Theater zu produzieren, eng verbunden mit eigenen Räumen und einer eigenen Theaterschule. Theatermacher:innen meiner Generation haben auch in Tucumán keine Möglichkeit mehr, eigene kleine Theatersäle zu eröffnen. Die Schauspieler:innen arbeiten meist nebenbei in anderen Berufen, manche arbeiten als Theaterlehrer:innen oder in theaternahen Berufen, andere als Ingenieur:innen, Copyshop-Besitzer:innen oder Graphik-Designer:innen. „Die Universität bildet nicht für diese Realität als Theatermacher:innen aus“, sagt Marina Rosenzvaig und erzählt von Diskussionen über eine Neugestaltung des Curriculums, die es erlaubt, Modi des Theatermachens auf andere gesellschaftliche Prozesse zu übertragen.
Fragen, die sich mir stellen, sind: Macht ein Kunststudium um der Kunst Willen Sinn, wenn es später keine Möglichkeit gibt, sie professionell auszuüben? Für welche Jobs ist man mit einem Theaterstudium qualifiziert? Und braucht es wiederum an einer Universität ausgebildete Theatermacher:innen, damit es eine Kulturszene geben kann? Die Grenze zwischen Laien und Professionellen, die in Deutschland gezogen wird, funktioniert hier nicht. Ohne die wirtschaftliche Prekarität verklären zu wollen, gibt es etwas an der Tucumaner Theaterszene, das mich sehr fasziniert: die Zugänglichkeit für unterschiedliche Menschen, die beginnen zu schauspielern und dann Stücke zu entwickeln. Tucumaner Theater kommt mir (mit Einschränkungen) weniger elitär vor.

Unter Milei verschärft sich die gesamte wirtschaftliche Situation des Landes, trotzdem beobachten weder Reyes noch María José Medina (die ich auch in ihren Kursen begleitet habe) bisher einen Rückgang an Teilnehmer:innen in ihren Schauspielkursen. Sie schließen daraus, dass die Möglichkeit, Theater zu spielen, in der Krise ein wichtiges Tool sein könnte, mit der harten Realität umzugehen.

3.
Meine dritte Forschungsfrage war: Welche Auswirkungen hatte die feministische Bewegung auf die Theaterwelt? Seit 2015 hat sich in Argentinien eine der größten und kraftvollsten feministischen Bewegungen der Welt entwickelt: Zuerst im Rahmen von Protesten gegen Femizide unter dem Slogan „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“) und ab 2018 in Aktionen für die Legalisierung von Abtreibung, mit dem grünen Halstuch als Protestzeichen. Auch auf Theatermacher:innen hatte diese Zeit einen großen Einfluss. Marina Rosenzvaig zeichnet in ihrer Doktorarbeit an der Universität Sevilla nach, welche Auswirkungen die feministische Protestwelle auf die Theatermacher:innen des argentinischen Nordwestens hatte, zu welchen Bündnissen und Performance-Aktionen die riesige Mobilisierung führte. Nach der Pandemie und unter Milei, der das 2020 erkämpfte Recht auf Abtreibung wieder rückgängig machen will, stellt sich die Frage, was bleibt. In Gesprächen mit Freund:innen wirkt die Protestbewegung wie ein vergangener Riese. Und deutlich wird, dass die vulnerabelsten Subjekte des Feminismus – transgeschlechtliche Frauen und Personen of Color – am schnellsten wieder ihre Rechte verlieren. Präsident Milei hat es sich zum Ziel erklärt, den Staat zu verschlanken, seit seinem Amtsantritt wurde mindestens 20.000 öffentliche Beschäftigten gekündigt. Außerdem werden viele der durch den Feminismus erkämpften staatlichen Programme runtergefahren oder gleich ganz eingestellt. Viele meiner Gesprächspartner:innen zeigen sich verzweifelt, weil sich bis jetzt noch kein wirklich manifester Widerstand mobilisiert hat. Und auch im Theaterkontext wirkt der Feminismus der 2010er Jahre wie eine Geschichte der Vergangenheit. Das war auch die Motivation für Marina Rosenzvaig, María José Medina und mich, im Rahmen meines Aufenthalts zwei Veranstaltungen an der Universidad Nacional de Tucumán über feministische Praktiken im Theater und Film zu machen, die viel Anklang bei den Studierenden fanden.

Also wie Theater-Machen in Zeiten einer eklatanten politischen und wirtschaftlichen Krise?

Marina Rosenzvaig sagt: „In der gegenwärtigen Phase des politischen Vormarschs der neoliberalen Ultra-Rechten ist es von zentraler Bedeutung, Theater zu machen. Aber nicht irgendein Theater, sondern Theater, das die kommerziellen, individualistischen und homogenisierenden Logiken, die die Regierung kulturell vorantreibt, bekämpft und hinterfragt. In der Tradition des argentinischen teatro independiente, aber auch in anderen globalen gemeinschaftlichen Theaterformen gibt es Wissen und Praktiken, die es wiederzugewinnen und zu erhalten gilt: Selbstrepräsentation, den Gemeinsinn, die kollektive Organisation und die gegenseitige Unterstützung müssen unbedingt gefördert und vervielfältigt werden, um mit der Kultur gegen Mileis Neoliberalismus zu kämpfen.“

Und Raúl Reyes sagt: „Man sollte nicht warten, sondern Theater in den Umständen machen, wie sie gerade sind. Es ist wichtig, das Instituto Nacional de Teatro zu verteidigen, aber abseits von dem, was man vom Staat weiterhin fordern muss, ist es noch wichtiger, weiter zu produzieren, sich über das Künstlerische Gedanken zu machen. Theater ist eine Kunstform, die eine bestimmte Form von Zeit und Arbeit braucht, die nicht durch die Bürokratie des Staates bestimmt werden kann. Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass Theater als kreativer Prozess seine eigene Zeitlichkeit hat und diese verteidigen.“

Ich danke all meinen Gesprächspartner:innen in Tucumán und Buenos Aires und der Claussen-Simon-Stiftung für die Unterstützung meines Projekts und freue mich sehr auf den Besuch von Raúl Reyes im Juni 2025.

 

Foto: Belinda Quinteros

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