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#Kultur #Transdisziplinarität #Wissenschaft #Wissenschaftskommunikation

Die kreative Ausweitung vielschichtiger Improvisationspraxis und die "Magie des Augenblicks"

Clara Haberkamp, Pianistin und Komponistin, stART.up-Alumna

Als aktive Jazzpianistin, Komponistin und stART.up-Alumna durfte ich innerhalb der letzten dreieinhalb Jahre das mir neue Feld der künstlerischen Forschung entdecken: In meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Dissertation an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg habe ich Methoden der improvisierten Liedbegleitung erforscht. Ich bin sehr dankbar und froh, dass die Claussen-Simon-Stiftung auch mich auch bei dieser Bereicherung meiner beruflichen Laufbahn mit dem Stipendienprogramm Dissertation Plus unterstützt hat.

Worum geht es?

Der Hauptteil der Arbeit besteht aus Kompositionen für Gesang und Klavier, die auf der Basis einer Dekonstruktion und ‚Umcodierung’ (Zergliederung und Neuzusammensetzung) musikalischer Strukturen aus Werken der Postmoderne und der Neuen Musik entstanden sind. Im Zuge dessen habe ich auch meine eigene Improvisationssprache als Genre-offene Pianistin verändert und ausgeweitet, indem ich meine eigenen Improvisationskonzepte systematisiert habe.

Durch die Integration der neu entwickelten Texturen in meine eigene Übepraxis haben sich Automatismen, intuitive Grifferinnerungen und Handbewegungsrichtungen etabliert, die nun durch unbewusste Prozesse in spontanen Improvisationen abrufbar sind.

Es ist anzunehmen, dass diese Dissertation aus rein künstlerischer Perspektive betrachtet die Frage aufwirft, ob eine wissenschaftliche Arbeit über den Prozess des Improvisierens einer ‚Entzauberung’ dieser musikalischen Praxis nahekommt – liegt nach dem ersten Augenschein nicht ein Widerspruch zwischen Improvisation und Systematisierung? Vor allem im Jazzbereich, wo wir als Improvisator:innen doch seit jeher den Spielmoment selbst als kreative Schöpfungsquelle feiern, scheint diese Annahme verbreitet zu sein. Doch steht die Analyse künstlerischer Prozesse und im Besonderen der Improvisationskunst wirklich der Ausdruckskraft und Tiefe, oder überspitzt ausgedrückt, der ‚Magie des Augenblicks’ entgegen?

Die Erweiterung einer Improvisationssprache durch die systematische Aneignung musikalischer Schemata – sei es durch Adaption oder die Modifizierung selbst erlernter Muster – soll diesem Schöpfungsmoment nicht entgegenstehen, sie soll ihn nähren. Der sogenannte ‚Flowzustand’, der aus meiner Sicht Rationalität und Intuition bzw. Unterbewusstes gleichermaßen zulässt, trägt einen hohen Anteil des zuvor Erlernten in sich. Den Nuancenreichtum lebendig zu halten und stetig zu erweitern, schafft auch mehr Räume im Spielmoment selbst. Es hemmt die ‚Magie des Augenblicks’ und die Emotionstiefe also keinesfalls.

Die Liedbegleitung ist ein formgebendes Element, sie schafft für die Konstellation Klavier und Gesang einen klaren Rahmen. Diese Art der Improvisation hat einen starken Einfluss auf den gesamten Ausdruck des Liedes, vor allem dann, wenn ein Gesangsthema mit einer klar definierten Melodie begleitet wird. Es ist daher sinnvoll, sich über die atmosphärische, emotionale und energetische Wirkung einzelner Begleittechniken im Klaren zu sein.

Mit dem systematischen Erforschen eben dieser Wirkung, die durch einzelne Satztechniken, Texturen und Harmonisierungen in unterschiedlicher Form hervorgerufen wird, erfüllt meine künstlerische Forschungsarbeit den Zweck der innerlichen Bewusstmachung.

Anwendbarkeit im pädagogischen Kontext

Während der Arbeit an der Dissertation konnte ich meine Erkenntnisse stets mit den Lehramtsstudierenden der Universität der Künste Berlin im Unterrichtsfach ‚improvisierte Liedbegleitung’ ausprobieren. In meiner nunmehr sechsjährigen Zeit als Lehrbeauftragte und Gastdozentin in diesem Bereich durfte ich eine Vielzahl von Studierenden mit diversen musikalischen Sozialisierungen kennenlernen und bis zu ihrem Abschluss begleiten. Dabei erkannte ich wiederkehrende Muster in den Lernprozessen. Obgleich jeder dieser Prozesse individuell zu betrachten ist, wurde doch deutlich, welche Methoden für die pädagogische Vermittlung von Liedbegleitung im Allgemeinen zukunftsweisend sind. Je nach Ausprägung pianistisch-technischer Fähigkeiten und bisheriger Berührungspunkte mit Improvisation, konnten die Studierenden die von mir generalisierten Methoden für sich umsetzen. Denn auch bei jenen mit wenig improvisatorischen Vorkenntnissen erschaffen Effekte wie Klangmetamorphosen, geringe oder weite Tonumfänge, Ostinatofiguren, (beidhändige) Arpeggiobewegungen etc. eine persönliche (emotionale) Identifikation mit dem Gespielten. Dies geschieht vor allem dann, wenn von Seiten der Lehrperson lediglich richtungsweisende Impulse vermittelt werden, die die Essenz der Technik oder des Begleitmusters und dessen dramaturgische Wirkung anregen. Die Erkenntnis darüber, welche Bewegung als organisch empfunden wird und somit beispielsweise einen weichen Klang erzeugen kann, ist ein sehr individueller Prozess. Es kann durch Assoziationen wie ‚Wischen’ oder ‚Streichen’ Inspiration in eine Richtung gegeben werden, das körperliche Bewusstsein für die physische Koordination der Klangerzeugung liegt jedoch in der Wahrnehmung des oder der einzelnen Studierenden.

Die Bereitschaft zur eigenen kreativen Arbeit ist unterschiedlich stark ausgeprägt, jedoch bewirkt jeder Prozess, der eigenständig von den Studierenden ausgearbeitet wird, weitaus mehr als die bloße Imitation vorgegebener Mechanismen. Fest steht, dass die Vervielfältigung des bereits Erlernten und infolgedessen internalisierten Improvisationsmaterials einen erweiterten Nuancenreichtum innerhalb der improvisierten Liedbegleitung zulässt. Dieses Material wächst vor allem durch eigene Kompositionsarbeit, das Analysieren und ‚Sezieren’ von Strukturen und das Spielen selbst.

Einordnung in den Kontext der künstlerischen Forschung im Bereich Musiktheorie

Um die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit in den Kontext künstlerischer Forschung in der Musiktheorie einzuordnen, empfinde ich es als angebracht, die Liedbegleitung als eine künstlerisch-wissenschaftliche Disziplin zu bezeichnen. Diese Disziplin vereint musikalische Praxis, Komposition und Werkanalyse. Wie ich anhand von Notenbeispielen meiner Arbeit veranschaulicht habe, interagieren diese Teilbereiche miteinander und begünstigen gegenseitig ihre jeweilige Weiterentwicklung.

Da die Liedbegleitung die kompositorische Faktur eines Werkes, also seinen Aufbau, maßgeblich bestimmt, ist sie vor allem ein form- und strukturgebendes Element. Daher eignet sie sich sehr gut, um Gattungen (z.B. das Kunstlied), Musikströmungen (z.B. Minimal Music) und verschiedene Stilistiken (Swing, Modern Jazz etc.) innerhalb eines Musikgenres voneinander abzugrenzen und zu definieren. Im weitesten Sinne können auch aktuelle Kompositionen für Klavier und Gesang mithilfe der Begleitung stilistisch charakterisiert werden. Im Zuge meiner Arbeit habe ich mehrfach Impulse gesetzt, die stilistische Eingrenzung durch verallgemeinernde Begleitmuster aufzuheben, jedoch nur, um Raum für eine Weiterentwicklung auf diesem Gebiet zu schaffen.

Mit meiner Dissertation möchte ich dazu beitragen, die Liedbegleitung als Charakteristikum individueller, zeitgemäßer Stilistiken im Feld der Musiktheorie zu etablieren. Ich sehe darin das Potenzial, die stilistische Vielfältigkeit, die sich in freien Improvisationen oder Reharmonisationen in jeglichen Genres ergibt, auch in Form von schriftlichen Notenbildern festzuhalten. Da viele improvisatorische Zugänge jedoch durch das Verschriftlichen ihren eigentlichen künstlerischen Ausdruck verlieren, soll diese Arbeit zeigen, wie freie Formen der Liedbegleitung anhand von veranschaulichten Kompositionsprozessen, Analysen und Techniken trotzdem sichtbar gemacht werden können.

Die gewonnenen Erkenntnisse über eine zeitliche, rhythmische und harmonische Mehrdimensionalität in der Begleitung sollen die Basis für eine Weiterentwicklung bieten, ohne an bestimmte Notenbilder gebunden zu sein. Hier sehe ich Potenzial für das Festsetzen von Kompositionstypen innerhalb aktueller Musikströmungen (definiert u.a. durch Formaufbau, Satzstruktur und Stil), die in zukünftigen musiktheoretischen Diskursen in den Bereichen Werkanalyse und Formenlehre relevant sein können.

Ausblick

Die Claussen-Simon-Stiftung hat mir geholfen, mich als selbstständige Künstlerin und Wissenschaftlerin zu etablieren und mein Netzwerk auszuweiten. Dafür bin ich sehr dankbar!

In den letzten Jahren hat sich meine Sicht auf den Stellenwert des wissenschaftlichen Arbeitens innerhalb meines beruflichen Schaffens und darüber hinaus stark verändert. Ich sehe die Arbeit im Bereich artistic research sowohl für das künstlerische Schaffen als auch für die Weiterentwicklung und Stärkung der Hochschulprofile als essentiell und zukunftsweisend an.

Ich würde mir wünschen, dass sich die Möglichkeit zur wissenschaftlich-künstlerischen Promotion an deutschen Hochschulen nachhaltig etablieren lässt.

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