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#Auslandsaufenthalt #Wissenschaft

“Your Home Away From the Homeland”

Lea Garcia, Stipendiatin bei Dissertation Plus

… das ist das Versprechen, mit dem das Balzekas Museum of Lithuanian Culture in Chicago auf seiner Website grüßt. Die litauisch-amerikanische Community in Chicago gilt als das wichtigste Zentrum für Litauer:innen außerhalb Litauens selbst. Das Balzekas Museum of Lithuanian Culture findet sich dort unter einer großen Anzahl von weiteren Organisationen und Vereinen mit nationalem Bezug; es bietet Besucher:innen in mehreren Ausstellungen – Dauer- und Sonderausstellungen – Einblick in die Geschichten und Lebenswelten der lokalen Community und deckt dabei ein sehr breites Themenspektrum von traditionellem Kunsthandwerk und archäologischen Funden bis hin zu Erinnerungen an den Alltag in Geflüchteten-Unterkünften in Deutschland und Deportationen in sowjetische GULAGs ab.

Neben dieser repräsentativen Funktion, die sich in Form der Ausstellungen auch an neugierige Personen außerhalb der Community richtet, verweist der Slogan aber auch auf etwas anderes, auf eine interne Funktion, auf eine weitaus persönlichere Ebene. So organisiert das Museum beispielsweise eine Vielzahl an Veranstaltungen, von Filmvorführungen über Bastel-Aktionen für Kinder bis zu einem regelmäßigen Frauen-Frühstück. Darüber hinaus bietet es Genealogie-Dienstleistungen und organisierte Gruppen-Reisen nach Litauen an, unterhält in seinen Räumlichkeiten eine Bibliothek und bewahrt die zahlreichen Sachspenden der Community für potenzielle Ausstellungen der Zukunft. Der Großteil der Mitarbeiter:innen, von denen viele ihrer Tätigkeit ehrenamtlich nachgehen, identifiziert sich als „Lithuanian(-American)“. Das Museum scheint also in erster Linie ein Ort von der Community für die Community zu sein. 
Für das Forschungsprojekt meiner Masterarbeit habe ich zwei Monate in dieser Umgebung verbringen und viele Akteur:innen der Community mit ihren Geschichten und Perspektiven kennenlernen dürfen. In meiner Forschung bin ich dabei den Fragen nachgegangen, wie kulturelle Identität von den Akteur:innen im Feld diskursiv konstruiert wird und welche Rolle Museen wie das Balzekas Museum in diesem Kontext spielen. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, habe ich die Ausstellungen vor Ort analysiert, Interviews mit Mitarbeitenden des Museums und Besucher:innen geführt und Ausstellungsbesuche von Interviewpartner:innen begleitet. Meine ethnografische Studie untersucht demnach mittels empirischer Daten Aushandlungsprozesse von Identität und Zugehörigkeit in diasporischen Communities.

Für die Museumslandschaft der USA sind sogenannte „community-focused museums”1, insbesondere in Großstädten, sehr typisch. Ihr thematischer Fokus liegt meist auf einer bestimmten diasporischen Community und thematisiert die Geschichten und Lebenswelten der jeweiligen Gruppe. Durch ihre besondere Kombination an Ausstellungen, Veranstaltungen und anderweitigen Dienstleistungen für die Mitglieder der Community nehmen „community-focused museums“ als lebendige Orte der Diaspora also einen außergewöhnlichen Platz in der Dynamik von Selbst- und Fremdrepräsentation ein. Für die Untersuchung von Konzepten wie kultureller Identität sind sie demnach sehr spannende Felder. Auch das Balzekas Museum lässt sich dieser Kategorie von Museen zuordnen.

Um Antworten darauf zu finden, wie kulturelle Identität von den Akteur:innen im Feld konstruiert und ausgehandelt wird und welche Rolle das Museum innerhalb dieser Prozesse spielt, habe ich mich der Thematik dann aus zwei unterschiedlichen Perspektiven angenähert. Zum einen habe ich mich mit dem informellen Diskurs über kulturelle Identität beschäftigt, indem ich Interviews mit Community-Mitgliedern aus verschiedenen Migrationsgenerationen und auch aus verschiedenen historischen Migrationskontexten geführt habe. Zum anderen habe ich mich mit dem institutionellen Diskurs über kulturelle Identität beschäftigt. Dafür habe ich die verschiedenen Ausstellungen des Balzekas Museums untersucht und in der Analyse sowohl die Texte der Ausstellungen und die darin enthaltenen Narrative als auch die dort präsentierten Objekte betrachtet. Als nächstes hat sich die Frage gestellt: Wo gibt es Berührungspunkte dieser beiden Diskursformen? Wo überschneiden sich informeller und institutioneller Diskurs? Um dieses Phänomen methodisch zu erfassen, habe ich einige der Interviewpartner:innen bei ihren Ausstellungsbesuchen begleitet und ihre Reaktionen und Perspektiven in Form von Interviews erfasst.

Wenn wir nun den institutionellen und informellen Diskurs mit Blick auf Konstruktionen von Identität betrachten, fällt auf, dass das zentrale Element in beiden Diskursformen immer wieder die Herstellung von kultureller Differenz ist. Abgrenzungen gegenüber dem als ‚Anders‘ wahrgenommenem werden hier auf vielfältige Weise diskursiv umgesetzt. Wie zeigt sich das in den empirischen Daten des Feldes? Im Fokus stehen hier vor allem Repräsentationen von Russland bzw. der Sowjetunion, aber auch von den USA. Gleichzeitig wird das Konzept auch innerhalb der Community genutzt, um auf Amerikanisierung hinzuweisen. Auf der anderen Seite werden auch eigene Erfahrungen von Othering thematisiert. Hierbei ist wichtig, dass diese Formen der Abgrenzung und Kategorisierung oft ein eher geschlossenes Kulturkonzept im Sinne von Nationalkultur reproduzieren. Allerdings wird an vielen Stellen auch deutlich, dass es Potenzial gibt, diese homogenen Abgrenzungen zu überwinden und transnationale Geschichten jenseits nationalstaatlicher Kategorisierungen zu erzählen.

Gleichzeitig zeigen beide Formen des Diskurses, also sowohl der informelle der Community-Mitglieder als auch der institutionelle des Museums, einen interessanten Umgang mit litauischer Geschichte. Die vorherrschende Erinnerungskultur im Feld setzt bei ihrem Blick auf die Vergangenheit besondere Schwerpunkte. Zunächst aber kurz zur Geschichte selbst: Litauen war lange Teil des Russischen Reichs und wurde dann von Deutschland besetzt. Im Jahr 1918 erklärte es zum ersten Mal seine Unabhängigkeit. Kurze Zeit später wurde es dann zunächst von der Sowjetunion, dann von den Nazis und dann erneut von der Sowjetunion besetzt, von der es erst wieder 1990 unabhängig wurde. In Litauen und auch in der litauisch-amerikanischen Diaspora feiert man bis heute zwei Unabhängigkeitstage im Jahr.

Wenn wir nun einen genaueren Blick auf die Erinnerungskultur werfen, fällt auf, dass es einen ganz klaren Schwerpunkt auf ebendiesen Unabhängigkeit(en) gibt. Die ‘Erzählung der Nation’2 beginnt mit der ersten Unabhängigkeitserklärung in 1918 und endet mit zweiten in 1990. Die relativ kurze Zeitspanne der sogenannten ersten Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen wird dabei zum zentralen Bezugspunkt und wird als Quelle der Identitätsstiftung genutzt. Diese Phase der Zwischenkriegszeit wird im Feld oft romantisiert und als eine Art Periode der ‘wahren’ Nation stilisiert, deren Charakteristika wiederhergestellt bzw. bewahrt werden sollen. Sie fungiert innerhalb dieser Erzählung als historische Referenz zu einem imaginierten ‚authentischem‘ Litauisch-Sein.

Was diese erinnerungskulturelle Schwerpunktsetzung innerhalb des Feldes spannend macht, ist, dass sie die Perspektiven ganz bestimmter innergemeinschaftlicher Gruppen in den Vordergrund stellt und dadurch gleichzeitig die Erfahrungen anderer in den Hintergrund rückt. Neben der zuvor thematisierten Herstellung von kultureller Differenz, indem nationale Kategorien genutzt werden, gibt es noch eine andere Komponente, die im Feld, vor allem im informellen Diskurs, sehr stark zur eigenen Identifikation und gleichzeitigen Abgrenzung voneinander verwendet wird: der historische Migrationskontext. Die Identifikation mit der jeweiligen Gruppe funktioniert hier generationenübergreifend. Die Erinnerungskultur, die auch im institutionellen Diskurs vorherrscht, ist geprägt von den Erfahrungen derjenigen, die im Kontext des Zweiten Weltkriegs und im Zuge der zweiten sowjetischen Besatzung Litauen verlassen haben. Die Gruppen, deren Perspektiven im Gegensatz dazu weniger stark in der Erinnerungskultur des Feldes präsent sind, sind zum einen die Gruppe, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu Zeiten des Russischen Reichs auswanderten, sowie diejenigen, die nach der zweiten Unabhängigkeit, also nach Zerfall der Sowjetunion, in die USA kamen.

Trotz dieser Priorisierung lässt sich sagen, dass es dem Museum mit seiner Erzählung gelingt, das Schicksal einzelner Individuen mit der Geschichte der Nation zu verknüpfen. In den Ausstellungen wird das dadurch intensiviert, dass nahezu alle ausgestellten Objekte Spenden aus der Community sind und viele persönliche Migrationsgeschichten von lokalen Familien erzählt werden. Wenn wir nun also zurück auf die Frage blicken, welche Rolle community-focused museums in diesem Prozess der Konstruktion und Aushandlung von Identität spielen, ist vor allem die Möglichkeit der Repräsentation wichtig. Sie bieten denjenigen Akteur:innen den Raum, ihre Geschichten zu erzählen, deren Stimmen in Museen der Mehrheitsgesellschaft oft außen vor bleiben.

Schließen möchte ich deshalb mit den Worten einer meiner Interviewpartner:innen, die über die Erfahrungen von Mitgliedern der Community mit dem Balzekas Museum spricht: “They’ve been able to tell their story here [...] it’s a really deep emotional response [...] I think at the end of the day people just want their story heard [...] and maybe they don’t always get to tell it to a sympathetic listener”. 

 

1  Für weiterführende Informationen zu diesem Begriff und der zugrundeliegenden Kategorisierung und Problematik verschiedener Museumstypen vgl.: Kurin, Richard: Reflections of a Cultural Broker. A view from the Smithsonian. Washington D.C. 1997.

2 Übersetzt aus dem Englischen „narration of the nation“. Bei der ‚Erzählung der Nation‘ handelt es sich um eine von fünf diskursiven Strategien, die bei der Konstruktion von kultureller Identität zentral sind. Für weiterführende Informationen zu diesem Begriff und dem zugrundliegenden Modell vgl. Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994.


Über Lea Garcia

Lea Garcia ist Dissertation Plus-Stipendiatin und promoviert im Graduiertenkolleg “Baltic Peripeties. Narratives of Reformations, Revolutions and Catastrophes” an der Universität Greifswald. Zuvor hat sie ihren Bachelor in Intercultural Management and Communication an der Karlshochschule International University in Karlsruhe gemacht, gefolgt von einem Master Transkulturelle Studien/Kulturanthropologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Erinnerungskultur, kultureller Identität und postkolonialer Theorie.
 

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